Beat Räber steht auf dem Flachdach eines Einfamilienhauses in Wattwil SG. «Hier hat es einige Einschläge an der Tür», stellt der 51-Jährige fest. Räber ist stellvertretender Leiter Schaden bei der Gebäudeversicherung St. Gallen und inspiziert gerade Hagelschäden am Haus von Besitzer Patrick Coppola.
Auch an der erst vor zwei Jahren renovierten Holzfassade entdeckt Beat Räber Beschädigungen beim Farbanstrich. Patrick Coppola lässt die beiden Lamellenstoren auf der Wetterseite herunter und weist auf die zahlreichen Dellen im Metall hin. Räber zieht sein Messband aus der Tasche und vermisst die beschädigten Flächen.
«Ich sah eine weisse Wand auf uns zukommen»
Am 29. Juli dieses Jahres war am Nachmittag ein heftiges Hagelgewitter über das Toggenburg gezogen und hatte rund 1500 Schadenfälle verursacht. Auch Patrick Coppolas Einfamilienhaus wurde dabei in Mitleidenschaft gezogen. «Ich sah eine weisse Wand auf uns zukommen – und dann prasselte es auch schon los», erinnert sich der Hausbesitzer. Mehr als eine Viertelstunde lang schlugen haselnussgrosse Hagelkörner gegen das Gebäude. Innert Kürze war die Umgebung in Weiss gehüllt. Laut Coppola war selbst am nächsten Tag noch nicht alles Eis weggeschmolzen.
Zum Glück drang nirgends Wasser in das 17 Jahre alte Haus. Doch die Hagelkörner hinterliessen diverse sichtbare Schäden. Coppola machte Fotos von Dellen sowie Einschlagstellen und sendete die Bilder zusammen mit dem ausgefüllten Schadenformular an die kantonale Gebäudeversicherung. Diese vereinbarte eine Schadeninspektion Ende August.
Experte Beat Räber ist jetzt mit dem ersten Teil der Inspektion fertig. Er versucht, einen Blick auf das Ziegeldach zu werfen. Doch der Winkel ist ungünstig und eine Leiter nicht zur Hand. Der Schadeninspektor rät Coppola, einen Dachdecker zu beauftragen, um das Dach auf Schäden hin zu untersuchen.
Im Garten hinter dem Haus schaut Räber noch eine Lärmsichtschutzwand aus unbehandeltem Holz an. Auch diese wurde vom Hagel in Mitleidenschaft gezogen. Sie ist aber bei der Gebäudeversicherung nicht versichert. Begründung: «Diese Wand befindet sich ausserhalb des Gebäudes und ist Teil der Umgebung.» Falls Coppola privat eine Gebäudesachversicherung abgeschlossen habe, komme diese allenfalls für den Schaden auf.
Für ästhetische Schäden gibt es eine Pauschale
In Coppolas Wohnzimmer zieht Schadeninspektor Räber sein Fazit: Es sei unverhältnismässig, die Holzfassade und die Tür neu zu streichen und die Lamellenstoren zu ersetzen. Denn Funktionsfähigkeit und Lebensdauer seien durch die Hageleinschläge nicht beeinträchtigt. Deshalb vergütet die Gebäudeversicherung nicht einen Neuanstrich oder einen Ersatz, sondern eine Pauschale zur Abgeltung des ästhetischen Schadens.
Inspektor legt die Höhe der Entschädigung fest
Räber setzt sich an seinen Laptop. Aufgrund der Intensität des Schadens, der Grösse der beeinträchtigten Flächen und der im System hinterlegten Marktpreise für Aussenanstriche und Lamellenstoren berechnet er die Entschädigung. Er beziffert diese auf 1250 Franken. Abzüglich 200 Franken Selbstbehalt bleiben dem Hauseigentümer 1050 Franken. Zudem genehmigt Räber 500 Franken für eine Dachkontrolle. Falls dabei Schäden zutage treten, die behoben werden müssen, solle Coppola mindestens eine Handwerkerofferte anfordern. Nach deren Prüfung durch die Gebäudeversicherung könne die Dachreparatur ausgeführt werden.
Patrick Coppola ist mit dem Entschädigungsvorschlag und dem weiteren Vorgehen einverstanden. Inspektor Beat Räber lässt seine Beurteilungen und Berechnungen noch von einem Arbeitskollegen nach dem Vieraugenprinzip überprüfen. Dann wird das Geld auf Coppolas Privatkonto überwiesen.
Was eine Gebäudeversicherung abdeckt – und was nicht
- Entsteht an einem Gebäude Schaden durch Feuer oder Elementarereignisse, kommt die Gebäudeversicherung ins Spiel. Der Schaden muss aber durch eine plötzliche und aussergewöhnlich heftige Einwirkung entstanden sein. Das heisst: Entsteht ein Schaden etwa durch Rost, Materialermüdung oder Konstruktionsfehler, zahlt die Gebäudeversicherung nicht. Das gilt auch für Wasserschäden, bei denen das Wasser nicht zu ebener Erde eingetreten ist – etwa durch Kanalisationsrückstau oder Leitungsbrüche. Diese Risiken können Hauseigentümer über eine private Gebäudesachversicherung versichern.
- Mit dem Gebäude versichert sind Ausstattungen, die Teil des Gebäudes sind oder zur Gebäudegrundnutzung gehören. Im Kanton St. Gallen etwa zählen angebaute Carports, Solaranlagen und Ausseneinheiten von Wärmepumpen zum Gebäude. Ausgeschlossen von Versicherungsleistungen sind aber Ladestationen für E-Fahrzeuge, textile Sonnenstoren oder Erdsonden. In anderen Kantonen können abweichende Regeln gelten.
- Grundsätzlich sind die Gebäude zum Neuwert versichert. Die Versicherung vergütet also die Kosten für die Wiederherstellung eines gleichartigen Gebäudes oder die Reparatur und den Ersatz der beschädigten Gebäudeteile. Vernachlässigt ein Hausbesitzer seine Liegenschaft aber so, dass sie fast nicht mehr bewohnbar ist, ist im Schadenfall nur der Zeitwert versichert. «Die Solidarität zwischen den obligatorisch Versicherten hat Grenzen», erklärt Beat Räber von der Gebäudeversicherung St. Gallen. Leistungskürzungen kann es auch geben, wenn ein Eigentümer grobfahrlässig handelte oder die Schadenverhütungspflicht offensichtlich verletzte. Bei rein ästhetischen Schäden zahlt die Versicherung nicht die Wiederherstellungskosten, sondern lediglich eine pauschale Entschädigung.
- Einen Schaden sollte der Hauseigentümer umgehend der Gebäudeversicherung melden. Massnahmen zur Minderung des Schadens kann man ohne Rücksprache sofort ergreifen. Der Schaden sollte vorher dokumentiert werden, etwa mit Fotos.
Monopolversicherung in 19 Kantonen
- Feuer und Elementarereignisse wie Sturm, Hagel, Hochwasser, Schneedruck, Steinschlag oder Erdrutsch können an Gebäuden zu enormen Schäden führen – bis hin zum Totalschaden. Deshalb ist eine Gebäudeversicherung für Hauseigentümer fast überall in der Schweiz obligatorisch. Ausnahmen sind die Kantone Genf, Tessin, Wallis sowie der innere Teil von Appenzell Innerrhoden. In den meisten Kantonen mit Obligatorium besteht eine staatliche Monopolanstalt für die Gebäudeversicherung. In Appenzell Innerrhoden, Genf, Obwalden, Schwyz, Tessin, Uri und Wallis sind Hausbesitzer über private Versicherer bei Feuer und Unwetter geschützt. Die Prämien dieser Versicherer sind in der Regel höher als jene der Monopolanstalten.
- Die 19 kantonalen Gebäudeversicherungen verfügen über keine Staatsgarantie. Dennoch sind ihre Deckungen in der Regel unbegrenzt. Sie versichern insgesamt 2,3 Millionen Gebäude – 85 Prozent aller Immobilien in der Schweiz. Der versicherte Wert beträgt rund 2500 Milliarden Franken. Um für Grossereignisse gewappnet zu sein, horten die Gebäudeversicherungen beträchtliche Reserven, die an den Kapitalmärkten angelegt sind. Das genügt aber nicht, um die hohen Risiken abzusichern. Zusätzlich bilden die Gebäudeversicherungen (ohne Bern) eine Solidarvereinigung, deren Mitglieder sich bei ausserordentlichen Ereignissen gegenseitig finanziell unterstützen. Das war etwa im Jahr 2021 nötig, als die Gebäudeversicherung des Kantons Luzern nach schweren Unwettern hohe Schäden bezahlen musste. Die Anstalten sichern sich darüber hinaus über Rückversicherungen wie Swiss Re oder Munich Re ab. Zur Deckung von Erdbebenschäden bilden 17 kantonale Gebäudeversicherungen einen Pool. Darin befinden sich 2 Milliarden Franken.