Als Hugo Marques Mitte der Nullerjahre zum ersten Mal in der Schweiz Geld abhob, staunte er. War das wirklich alles, was man hier an einem Bancomaten tun konnte: Geld abheben? Bestenfalls noch Geld einzahlen oder den aktuellen Kontostand abrufen? War er, der Portugiese, denn nicht im Land der Finanzdienstleister gelandet?
Portugal gehört zu den einkommensschwächeren Staaten in Europa – doch mit seinem Geldautomatenverbund Multibanco schuf das kleine Land bereits in den 1990er-Jahren eines der modernsten und effizientesten Zahlungssysteme weltweit. Die portugiesischen Bancomaten warten mit einem Dienstleistungsangebot auf, das seinesgleichen sucht: Man kann seine Steuern bezahlen oder für Studiengebühren aufkommen, das Prepaidhandy aufladen, Jagdlizenzen erwerben oder allfällige Gerichtskosten begleichen, Konzerttickets buchen, Bahnbillette besorgen, für wohltätige Zwecke spenden.
Hugo Marques ist mein Ehemann. Und so war umgekehrt ich erstaunt, als wir im Jahr 2014 von Zürich nach Lissabon zogen: Ich wunderte mich, wie problemlos man dort selbst kleinste Beträge mit der Debitkarte begleichen konnte. Und wie viele Bancomaten es in diesem Land gab. Tatsächlich weist Portugal bis heute eine der höchsten Konzentrationen von Bancomaten in Europa auf – mit über 1300 Geldautomaten pro einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern. In der Schweiz sind Geldausgabegeräte deutlich dünner gesät: Auf eine Million Einwohner kommen knapp 800.
Den Grundstein für das bankenübergreifende Netzwerk und das einheitliche Debitkartensystem in Portugal hatte in den 1980er-Jahren die aus einer Partnerschaft von Banken und Universitäten entstandene Sociedade Interbáncaria de Serviços gelegt – die heutige Aktiengesellschaft Sibs. Warum hat die Schweiz dieses Bezahlsystem nicht übernommen? Der Ökonom Tobias Trütsch vom Center for Financial Services Innovation an der Universität St. Gallen hat eine Antwort: «In den 1990er-Jahren gab es in der Schweiz viel mehr Banken als in Portugal.» Der Koordinations- und Investitionsaufwand für eine gemeinsame Lösung wäre daher ungleich grösser gewesen.
Laut Jorge Paulo, Leiter Produktmanagement bei der Sibs, hat die Beliebtheit von Geldautomaten in Portugal kaum nachgelassen, obwohl sich in den vergangenen Jahren auch dort Zahlungsmöglichkeiten wie E-Banking oder Mobile Payment verbreiteten. Gerade das Begleichen der Strom- oder Gasrechnung, das Aufladen von Guthaben für das Mobiltelefon und Zahlungen an den Staat oder die Sozialversicherung würden weiterhin oft am Bancomaten erledigt.
«Das hat viel mit dem Vertrauen der Bevölkerung in die Dienstleistungen von Multibanco und mit der Gewohnheit zu tun», meint Jorge Paulo. Vertrauen und Gewohnheit dürften auch der Grund dafür sein, dass mein Mann bis heute oft nochmals kurz das Haus verlässt, wenn ihm einfällt, dass die Zahlungsfrist für eine Rechnung abläuft – während ich in einer solchen Situation auf dem Sofa gemütlich den Laptop aufklappe.