Markus Müller lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Bern. Im Gegensatz zu den meisten Politikern befürwortete er schon vor zwei Jahren die Volksinitiative «Pro Service public» von «K-Tipp» und saldo. Das Volksbegehren sei klar und eindeutig gewesen: «Die Initiative wollte, dass sich die staatlichen Service-public-Betriebe wie etwa Bahn und Post in erster Linie am Gemeinwohl orientieren.» Diese Forderung sei richtig, denn «Staatsbetriebe sind keine privatwirtschaftlichen Unternehmen». Nach den Falschbuchungen in der Post­auto-Buchhaltung nennt Müller im Interview mit saldo die Hintergründe des Skandals.
 
saldo: Herr Müller, die Post hat zugegeben, rund 80 Millionen Franken Subventionen erschwindelt zu haben, um den Gewinn zu erhöhen. Wer hat hier versagt?
 
Markus Müller: Das Parlament und der Bundesrat haben die Post in den letzten Jahren zu dem gemacht, was sie heute ist. Ein Unternehmen, das bisweilen aus den Augen ­verliert, dass es ein staatlicher ­Service-public-Betrieb und damit nichts anderes als eine Einheit der Bundesverwaltung ist. Als solche hat sich die Post in allererster Linie am Gemeinwohl und den rechtsstaatlichen Regeln zu orientieren. Gewinnstreben darf nie das ­Hauptziel staatlichen Handelns sein. Genau diese Sensibilität scheint aber sowohl der Unternehmens­führung als auch den politischen Aufsichtsbehörden abhandengekommen zu sein – allen voran dem Bundesrat. 
 
Die Service-public-Initiative forderte genau das, was Sie erwähnten: Die Bundesbetriebe sollten in erster Linie einen guten Service bringen, nicht einen maximalen Profit anstreben. Sie wurde aber abgelehnt. 
 
Ja, die Initiative wurde schon im ­Parlament zu null verworfen. Das ist ein eindrücklicher Beleg dafür, dass der eigentliche Auftrag der Post auch den Politikern nicht mehr klar ist. Dieses Volksbegehren – das diesen Namen verdiente – wollte nämlich nichts anderes, als vor der zunehmenden Ökonomisierung im ­Service-public-Sektor warnen und ein dringend notwendiges ­Umdenken herbeiführen. 
 
Die Initiative wurde auch an der Urne mit rund 67 Prozent ­Nein-Stimmen abgelehnt. Viele Politiker und die Verantwortlichen der Bundesbetriebe sagten nach geschlagener Schlacht aber, sie hätten grosses Verständnis 
für die Anliegen der Initianten. Waren das nur Lippenbekenntnisse?
 
Ja, es scheint so. Für die Unternehmensführung der Post und auch für die anderen Staatsbetriebe wie die SBB oder die Swisscom waren die damaligen Signale aus der Politik eine Bestätigung, gar eine Aufforderung, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Damit hat man ­falsche, und wie man jetzt sieht, ­gefährliche Anreize geschaffen. Die Verantwortlichen in der Unternehmensführung und Unternehmensaufsicht können damit offensichtlich nicht umgehen. Das ist alarmierend. Erschwerend kommt hinzu, dass wir in der Schweiz eine unterentwickelte Verantwortlichkeitskultur haben: Alle sind für 
alles – aber niemand für etwas ­verantwortlich. Läuft etwas falsch, wird die Verantwortung rasch auf viele Köpfe verteilt. Am Schluss bleibt ein grosses Schulterzucken. Deshalb wird es wohl noch einige Skandale brauchen, bis in den politischen Entscheidungsgremien die Einsicht Platz greift, dass ein ­Paradigmenwechsel in der Organisations- und Führungsphilosophie staatlicher Betriebe unumgänglich wird.
 
Heisst das, dass für die gegenwärtige Entwicklung vor allem die Politiker verantwortlich sind?
 
Ja, die Politiker tragen die Haupt­verantwortung für die gegenwärtige Krise unserer Staatsbetriebe. Sie ­waren es, welche die Privatisierungs- und Ökonomisierungsmoden der 90er-Jahre ziemlich unkritisch ­übernahmen und sich von diesem Weg bis heute nicht mehr abbringen liessen. Obwohl es damals wie heute genügend Kritiker gab, die permanent mahnten, dass der Staat kein Unternehmen sei. Die Geister, die man damals rief, wird man nun so schnell nicht wieder los. Dazu braucht es intensive Denkarbeit, ­Willen zur Veränderung und letztlich auch etwas Mut, Modetrends kritisch zu hinterfragen.