Kreuzbandriss - «Muss ich in die Röntgenröhre?»
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Gesundheitstipp 1/2002
01.01.2002
Der Orthopäde Luzi Dubs berät einen Patienten
Was sollen Patienten tun, wenn das Knie auch Monate nach dem Kreuzbandriss noch schmerzt? Kniespezialist Luzi Dubs vermutete eine Meniskus-Verletzung und riet seinem Patienten zur Gelenkspiegelung.
Vor drei Monaten zog sich der 35-jährige Felix Minder* nach einem Skisturz einen vorderen Kreuzbandriss am linken Knie zu (siehe Puls-Tipp 10/01). Zudem verletzte er sich wahrscheinlich am Innenmeniskus und Innenband. Felix...
Der Orthopäde Luzi Dubs berät einen Patienten
Was sollen Patienten tun, wenn das Knie auch Monate nach dem Kreuzbandriss noch schmerzt? Kniespezialist Luzi Dubs vermutete eine Meniskus-Verletzung und riet seinem Patienten zur Gelenkspiegelung.
Vor drei Monaten zog sich der 35-jährige Felix Minder* nach einem Skisturz einen vorderen Kreuzbandriss am linken Knie zu (siehe Puls-Tipp 10/01). Zudem verletzte er sich wahrscheinlich am Innenmeniskus und Innenband. Felix Minder entschied sich, die Verletzung vorläufig nicht operieren zu lassen. Er wollte den natürlichen Heilungsvorgang zuerst beobachten. Denn eine Operation kann eine verletzungsbedingte Arthrose nicht verhindern. Heute wollen Arzt und Patient entscheiden, ob sie weiterhin den natürlichen Heilungsprozess unterstützen oder ob sich eine Operation von Knorpel und Meniskus oder allenfalls des Kreuzbandes aufdrängt.
Luzi Dubs: Wie geht es Ihnen?
Felix Minder: Nicht schlecht. Das Knie war nach dem Unfall bald einmal abgeschwollen. Ich konnte nach wenigen Tagen wieder arbeiten. Ich ging zuerst dreimal, dann zweimal in der Woche in die Physiotherapie, um die Muskeln aufzubauen. Wenn ich nicht gut aufpasse und das Knie etwas abdrehe, habe ich immer noch Schmerzen auf der Innenseite.
Dubs: Dies deutet mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass der Innenmeniskus verletzt ist. Ihr Körper kommt damit offensichtlich nicht klar. Muskeln und Nerven haben sich noch nicht so gut erholt, dass sie das Knie schützen können. Fühlen Sie sich schon sicherer?
Minder: Es kommt immer wieder vor, dass ich im Knie noch etwas einsinke, wenn ich es stark belaste. Was bedeutet das?
Dubs: Ich würde jetzt gerne Ihr Kniegelenk untersuchen.
Einige Minuten später. Luzi Dubs erkennt, dass das Knie zwar noch immer leicht überwärmt ist, es lässt sich aber praktisch voll bewegen. Ein Test zeigt auf, dass das Kreuzband im verletzten Knie etwa um 5 Millimeter lockerer ist als im gesunden Knie. Wenn der Arzt auf den Meniskuspunkt auf der Innenseite drückt, verspürt Felix Minder sofort Schmerzen. Beim Abdrehen des Knies verstärken sich die Schmerzen.
Dubs: Ich schliesse daraus, dass der Innenmeniskus mit mehr als 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit geschädigt ist und nicht mehr von selbst heilt. Aufgrund der anhaltenden Beschwerden sollten wir über eine Behandlung sprechen. Eine Magnetresonanz-Untersuchung (MRI) in der «Röhre» können wir uns sparen. Ich rate Ihnen zu einer Gelenkspiegelung, einer Arthroskopie. Damit können wir gleichzeitig den geschädigten Meniskusteil entfernen.
Minder: Warum denn nicht in die Röhre? Da können wir doch ganz sicher sein, ob wirklich etwas am Meniskus ist oder nicht.
Dubs: Dieser Test würde nur eine verschwindend kleine Zusatzinformation liefern. Wir wären danach vielleicht nicht nur zu 98 Prozent, sondern zu 99 Prozent sicher, dass Ihr Meniskus geschädigt ist.
Minder: Ich dachte immer, ein Magnetresonanz-Bild sei zu 100 Prozent sicher?
Dubs: Kein Test in der Medizin ist 100 Prozent sicher. Es gibt immer wieder so genannt «falsch positive» und «falsch negative» Testresultate. Der MRI-Test kann also einen Schaden am Meniskus vortäuschen oder verpassen.
Minder: Das heisst, nicht jeder im Bild dargestellte Meniskus-Schaden ist auch wirklich einer?
Dubs: Einerseits ja. Andererseits gibt es auch Risse im Meniskus, die für den Patienten keine Bedeutung haben. Wenn wir allen Menschen in Ihrem Alter heute ein Knie-MRI machen würden, gäbe es sicher solche, bei denen würde das MRI einen Meniskusriss aufzeigen - obwohl die Betreffenden gar keine Beschwerden hätten.
Eine MRI-Abklärung kostet immerhin rund 800 Franken. Deshalb sollten wir sie nur anwenden, wenn sie uns hilft, eine Entscheidung treffen zu können. Und das ist nicht der Fall. Zudem ist die Arthroskopie der bessere Test: Mit der so genannten Tasthaken-Prüfung kann man besser erkennen, wie stark der Meniskus geschädigt ist.
Minder: Wenn wir jetzt eine Arthroskopie machen, könnte man doch gleichzeitig das Kreuzband operieren? Ich habe im Internet gelesen, dass dies Ärzte tun.
Dubs: Natürlich könnte man das. Man bohrt dabei Löcher in den Knochen und zieht Sehnenersatz-Gewebe unter Spannung durch das Knie. Durch die Arthroskopie kann man diese Operation kontrollieren.
Bei Ihrem letzten Besuch sind wir aber zum Schluss gekommen, dass der natürliche Heilungsverlauf den Nutzen einer sofortigen Operation verfälschen kann. Ob eine Kreuzband-Operation jemals notwendig sein könnte, wird der weitere Verlauf zeigen.
Es handelt sich um eine aufwändige, anspruchsvolle Operation mit einer mehrmonatigen Nachbehandlung. Der Nutzen dieser Operation ist langfristig gesehen immer mehr umstritten. Sie kann das Entstehen einer Arthrose nicht verhindern.
Auch ohne Operation werden Sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wieder Sport treiben können und eine gute Lebensqualität erreichen. Ich empfehle Ihnen, dass wir - falls es nötig sein wird - während der Arthroskopie einen Teil des Meniskus entfernen. Dannach sollten Sie die Heilung abwarten und weiterhin Ihre Muskeln beim Physiotherapeuten aufbauen.
Felix Minder entschied sich für den arthroskopischen Eingriff. Er konnte ihn ambulant durchführen lassen. Luzi Dubs stellte während des Eingriffs fest, dass Felix Minder einen Lappenriss am Innenmeniskus hatte. Der Knorpel war zum Glück nicht beschädigt. Dubs entfernte den geschädigten Meniskusteil. In wenigen Wochen beruhigte sich das Knie. Felix Minder hatte keine Schmerzen mehr und konnte - leicht angepasst, aber ohne Beschwerden - wieder Sport treiben. Er ging mit seiner Familie Ski fahren und wandern. Zudem spielte er mit einem seiner ehemaligen Fussballkollegen etwas Tennis. Eine weitere Behandlung schien nicht mehr nötig.
Stellen Sie die richtigen Fragen
- Über Vor- und Nachteile einer Operation oder einer Behandlung muss Sie der Arzt nach dem neusten Stand der Wissenschaft informieren.
- Er muss Ihnen auch sagen, was kurzfristig, aber auch langfristig passiert, wenn Sie sich nicht oder anders behandeln lassen.
- Sie können dazu beitragen, indem Sie dem Arzt die richtigen Fragen stellen.
- Das hier abgedruckte Gespräch ist ein Beispiel, wie ein Arzt aufklären und ein Patient Fragen stellen soll.
Wann ist die «Röhre» sinnvoll?
So kann der Arzt einen Riss am Meniskus entdecken:
- Vorabklärungen im Arztzimmer
- Magnetresonanztomografie (MRI): Der Volksmund nennt die Methode «Röhre», weil der Patient zur Diagnose in ein röhrenförmiges Gerät liegen muss. Ein Untersuch kostet rund 800 Franken.
- Gelenkspiegelung, die Arthroskopie: Der Arzt führt eine kleine Optik mit aufgesetzter Kamera in das Knie und kann schauen, ob der Meniskus gerissen ist. Der Eingriff kostet 800 bis 1200 Franken und ist aussagekräftiger, aber auch belastender als das MRI. Der Arzt kann aber einen entdeckten Meniskus-Schaden gleichzeitig beheben.
Doch wann soll der Arzt ein MRI machen? Wann eine Gelenkspiegelung? Bereits in den Vorabklärungen ohne MRI oder Gelenkspiegelung kann der Arzt mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit erkennen, ob ein Meniskus-Riss vorliegt. Eine Gelenkspiegelung ist dann sinnvoll, wenn es zu mehr als 90 Prozent wahrscheinlich ist, dass ein Meniskus tatsächlich gerissen ist. Auch ein MRI kann einen Riss nicht 100-prozentig feststellen: Es übersieht 10 bis 15 Prozent der Schäden. Andererseits sind 5 Prozent der vom MRI erkannten Risse in Wirklichkeit gar keine.
Beispiel: Wenn ein erfahrener Arzt in den Voruntersuchungen mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen Riss im Meniskus vermutet, so hilft ihm ein MRI nicht viel. Ein MRI erhöht die Wahrscheinlichkeit nur um 1,88 Prozent auf 99,88 Prozent. Dies ist eine geringfügig präzisere Diagnose. Der Arzt müsste 50 Patienten in die Röhre schicken, um eine einzige unnötige Gelenkspiegelung zu verhindern. Das verursacht Kosten von 40 000 Franken. Die teure MRI-Untersuchung bringt in diesem Fall praktisch keinen Nutzen.
Anders sieht es aus, wenn der Arzt in der Voruntersuchung lediglich zu 50 Prozent sicher ist, dass ein Meniskusriss vorliegt. Nach einem MRI kennt der Arzt in diesem Fall mit einer Wahrscheinlichkeit von 94,4 Prozent die richtige Diagnose. Der Arzt muss statistisch gesehen lediglich zwei Patienten in die Röhre schicken, um eine allenfalls unnötige Gelenkspiegelung zu verhindern. Hier lohnt sich also ein MRI-Untersuch eher.
Solche Berechnungen verdeutlichen, wann Ärzte ein MRI oder eine Gelenkspiegelung als Diagnose-Instrument einsetzen sollen, damit diese dem Patienten am meisten Nutzen bringen. Diese Art von Nutzenforschung gehört zur neuen medizinischen Disziplin «Evidence based Medicine» (EBM).