Legasthenie - Ein Leben lang auf Kriegsfuss mit den Buchstaben
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Gesundheitstipp 8/2001
01.08.2001
Warum die Lese- undSchreibschwäche nicht heilbar ist
Esther Diener-Morscher redaktion@pulstipp.ch
Mit Buchstaben hat die Baselbieterin Josiane Mende ihre liebe Mühe: «Neapel» liest sie als «Nepal». Oder ein «Seitensprung» wird für sie zum «Seriensprung».
«Beim Schreiben vergesse ich oft Buchstaben», erzählt die 33-Jährige. «Korrigieren kann ich die Fehler nicht. Denn beim Durchlesen sehe ich die Wörter richtig geschrieben vor mir, obw...
Warum die Lese- undSchreibschwäche nicht heilbar ist
Esther Diener-Morscher redaktion@pulstipp.ch
Mit Buchstaben hat die Baselbieterin Josiane Mende ihre liebe Mühe: «Neapel» liest sie als «Nepal». Oder ein «Seitensprung» wird für sie zum «Seriensprung».
«Beim Schreiben vergesse ich oft Buchstaben», erzählt die 33-Jährige. «Korrigieren kann ich die Fehler nicht. Denn beim Durchlesen sehe ich die Wörter richtig geschrieben vor mir, obwohl Buchstaben fehlen oder am falschen Ort stehen.»
Josiane Mende hat gelernt, sich mit ihrer Lese- und Rechtschreibeschwäche zu arrangieren: Sie hat eine Handelsschule besucht, ist heute kaufmännische Angestellte und muss täglich schreiben. Das Rechtschreibeprogramm auf dem Computer hilft ihr, die Fehler in ihren Texten zu erkennen. Und sie übt: «Ich versuche, in der Freizeit regelmässig zu lesen. Dann mache ich weniger Fehler. Wenn ich damit aufhöre, habe ich sofort wieder mehr Mühe mit Schreiben.»
Als Josiane Mende vor 25 Jahren in der Schule nicht richtig lesen lernte, kam niemand auf die Idee, dass sie an Legasthenie leiden könnte. «Beim Vorlesen stotterte ich und wurde ausgelacht. Weil alle dachten, ich sei lernfaul, musste ich ganze Sonntage Bücher lesen und Diktate schreiben», erinnert sich Josiane Mende.
Forscher suchen nach dem «Legasthenie-Gen»
Legasthenie - oft auch als Dyslexie bezeichnet - ist eine Wahrnehmungsstörung. Bei Legasthenikern sind bestimmte Hirnfunktionen beeinträchtigt. Die Betroffenen haben deshalb Mühe, die Formen von Buchstaben und die Sprachlaute zu unterscheiden.
Wie es zu dieser Störung kommt, ist noch nicht genau erforscht. «Weil Legasthenie oft bei mehreren Familienmitgliedern vorkommt, gehen wir davon aus, dass Vererbung eine grosse Rolle spielt», sagt Daniel Brandeis, Dozent am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni Zürich. In seiner derzeit laufenden Studie wird deshalb auch untersucht, welche Gene in betroffenen Familien für Legasthenie verantwortlich sein könnten.
Sicher ist: Legasthenie hat nichts mit der Intelligenz zu tun. «Es stimmt nicht, dass Legastheniker zu dumm sind zum Schreiben und Lesen. Allerdings sind auch nicht alle Legastheniker ausnehmend geniale Menschen, wie das in letzter Zeit manchmal verbreitet worden ist», sagt Susanne Bertschinger, ehemalige Präsidentin des Verbands Dyslexie Schweiz und Vorstandsmitglied des europäischen Dyslexie-Verbands. Unter Legasthenikern ist die gleiche Bandbreite an Intelligenz zu finden wie in der übrigen Bevölkerung.
Betroffene müssen mit ihrer Schwäche leben lernen
Heilbar ist Legasthenie nicht. «Die Betroffenen müssen Strategien lernen, um mit ihrem Handicap zu leben», erklärt Susanne Bertschinger. Vielen Legasthenikern gelingt das sehr gut, wie das Beispiel von Josiane Mende zeigt.
Legastheniker können auch Lehrer werden - oder Filmemacher. Der Regisseur und Legastheniker Fredi M. Murer erinnert sich an seine Schulzeit: «Ich bekam jeweils Szenenapplaus für neue Fehlerrekorde. Deshalb begann ich alles zu umgehen, was mit Schreiben zu tun hatte.» Stattdessen zeichnete Murer seine Geschichten. «Vielleicht bin ich nur dank meiner Legasthenie Filmemacher geworden», meint Murer rückblickend.
«Es gibt aber auch Betroffene», so die Erfahrungen von Susanne Bertschinger, «die das Problem nie in den Griff bekommen und eine Invalidenrente beziehen, weil sie keinen Beruf ausüben können.»
Viele Therapien - aber keine Erfolgsgarantie
In der klassischen Legasthenie-Therapie üben Betroffene, die Buchstaben und Laute besser zu unterscheiden. Und sie wenden neue Lernmethoden an, die ihnen besser entsprechen. Es gibt aber auch zahlreiche alternative Therapien, die für Legastheniker empfohlen werden: Unter anderen die Ron-Davis-Methode, Musiktherapie, Feldenkrais oder autogenes Training. Eine Therapie, die garantiert hilft, gibt es nicht. Gewisse Therapien, wie etwa die Ron-Davis-Methode, sind ausserdem sehr teuer und aufwändig. Der Verband Dyslexie Schweiz rät, eine alternative Therapie kritisch auszuwählen: «Es hat keinen Sinn, Kinder von einer Therapie zur nächsten zu schleppen», sagt Bertschinger.
Erkenntnisse für neue Therapieformen erhofft sich Daniel Brandeis von seinen derzeitigen Untersuchungen: «Wir wissen, dass die Hirnstrukturen von Legasthenikern nicht einfach geschädigt sind. Man kann die Hirnfunktionen trainieren, etwa mit intensiven Lautübungen. Wir wissen nur noch nicht, ob das auch mit bestimmten Sehübungen funktioniert.»
Lese- undSchreibschwäche - Nicht jeder Rechtschreibfehler bedeutet Legasthenie
Auf Legasthenie deuten folgende Schwächen hin:
- Die Betroffenen schreiben ungewöhnlich viele Wörter falsch.
- Sie lesen langsam und fehlerhaft.
- Sie ziehen die einzelnen Buchstaben nicht oder nur stockend zusammen.
- Sie verwechseln häufig ähnliche Wörter oder Buchstaben, lassen Buchstaben aus, verwechseln die Reihenfolge.
- Sie nehmen die Einzellaute in den Wörtern nur schlecht oder falsch wahr.
- Sie können längere Wörter oft nicht genau nachsprechen.
Lese- und Rechtschreibeprobleme können aber auch andere Ursachen haben. In diesen Fällen können Kinder mit zusätzlicher Hilfe beim Lernen ganz normal lesen und schreiben lernen:
- Eine längere Krankheit, ein Schulwechsel oder seelische Belastungen können das Lesen- und Schreibenlernen verzögern.
- Es fehlt an der Übung und an Unterstützung.
- Der Unterricht geht zu rasch voran.
- Kontakt- und Anlaufstelle für Betroffene: Verband Dyslexie Schweiz, Postfach 1270, 8021 Zürich, Fax 052 345 04 62. dyslexie@swissonline.ch
- Aktuelle Legasthenieforschung: Studie Lesenlernen, ZKJP, Universität Zürich, Postfach, 8032 Zürich