Neue Grippemittel - Ohne Arztrezept verkauft
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Gesundheitstipp 2/2000
01.02.2000
Experten warnen davor, sich mit Tamiflu und Relenza selber zu behandeln
Stichproben des Puls-Tip ergaben: In jeder dritten Apotheke gingen die neuen Grippemittel ohne Arztrezept über den Ladentisch. Das ist gefährlich: Statt Grippeviren können auch tödliche Bakterien am Werk sein.
Die Puls-Tip-Mitarbeiterin steht in der Apotheke: «Guten Tag, ich leide an Schüttelfrost, Fieber, Hals- und Gliederschmerzen. Ich glaube, ich bekomme die Grippe.» Sie erhoffe sich B...
Experten warnen davor, sich mit Tamiflu und Relenza selber zu behandeln
Stichproben des Puls-Tip ergaben: In jeder dritten Apotheke gingen die neuen Grippemittel ohne Arztrezept über den Ladentisch. Das ist gefährlich: Statt Grippeviren können auch tödliche Bakterien am Werk sein.
Die Puls-Tip-Mitarbeiterin steht in der Apotheke: «Guten Tag, ich leide an Schüttelfrost, Fieber, Hals- und Gliederschmerzen. Ich glaube, ich bekomme die Grippe.» Sie erhoffe sich Besserung mit den neuen Medikamenten Tamiflu oder Relenza.
Die Angestellte überlegt kurz und sagt: «Diese Grippemittel können wir nur gegen Rezept abgeben. Bitte warten Sie, ich frage den Apotheker.» Kurz darauf kommt der Apotheker an die Theke und wiederholt: «Sie benötigen ein ärztliches Rezept.»
Die Puls-Tip-Mitarbeiterin bleibt hartnäckig: «Ich habe aber heute keine Zeit, den Arzt aufzusuchen.» Die neuen Mittel müssten die Patienten doch in den ersten 36 Stunden der Beschwerden einnehmen. Nur dann würden die neuen Mittel wirken, die das Virus angreifen und nicht nur die Symptome bekämpfen.
In 4 der 15 zufällig getesteten Geschäfte wurden die Apotheker weich. Sie verkauften Relenza oder Tamiflu ohne die notwendigen Rezepte.
Das ist ein klarer Verstoss gegen die gesetzlichen Bestimmungen - und zudem nicht unbedenklich. Grippeexperten warnen nämlich davor, die Medikamente unsachgemäss zu nehmen.
Voreilig abgegebene Mittel führten zu mehreren Toten
Vor wenigen Tagen rief die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA die Ärzte auf, die Mittel zurückhaltend zu verschreiben. Bei der Behörde gingen Meldungen über schwere Behandlungsfehler ein. Heidi Jolson, Direktorin der Abteilung Antivirale Medikamente, berichtete gegenüber der «Washington Post» von fünf Toten. Drei davon, so bestätigte die FDA-Sprecherin Crystal Wyand, hätten bei bakteriellen Infektionen statt Antibiotika fälschlicherweise eines der Grippemittel erhalten. Weitere kamen in Besorgnis erregendem Zustand ins Spital.
Beide, Tamiflu von Roche und Relenza von Glaxo Wellcome, wirken nämlich nur gegen Grippeviren. Sie bleiben wirkungslos gegen Bakterien wie Pneumokokken oder Chlamydien. Diese rufen auf den ersten Blick grippeähnliche Symptome hervor, können aber zu schweren Lungenentzündungen und ohne Antibiotika zum Tod führen.
Solche gravierende ärztliche Fehleinschätzungen sind in der Schweiz nicht bekannt. Dies ergab eine Umfrage bei Behörden und den Universitätsspitälern in Basel, Bern und Zürich. Infektiologe Marco Rossi vom Berner Inselspital sagt: «Derzeit kommen zwar Patienten mit Lungenentzündungen und Komplikationen auf die Notfallstation. Im Einzelfall ist es für uns aber schwierig zu entscheiden, ob die Lungenentzündung als Folge einer Grippe auftrat.»
Auch beim Nationalen Grippezentrum in Genf und dem Bundesamt für Gesundheit sind bisher keine Meldungen eingetroffen. Allerdings müssen Ärzte Grippetote den Behörden nicht melden.
Trotzdem sind sich die Experten einig: Weder Relenza noch Tamiflu gehören ohne ärztliche Kontrolle in die Hände der Patienten. Grippespezialist Werner Wunderli, Leiter des Nationalen Grippezentrums, sagt: «Ein Laie kann nicht entscheiden, ob er wirklich Grippe hat. Es ist deshalb heikel, sich selbst zu behandeln.» Auch Infektiologe Marco Rossi findet es problematisch, die Mittel ohne Rezept abzugeben: «Der Apotheker kann die Grippe nicht zuverlässig am Ladentisch diagnostizieren. Eine bakterielle Infektion kann durchaus ähnlich aussehen.»
Auch ist die Wirkung bei Menschen mit einem hohen gesundheitlichen Risiko - zum Beispiel chronisch Kranke oder Menschen mit einem geschwächten Immunsystem - noch nicht bekannt.
Relenza, das die Patienten inhalieren müssen, kann zudem bei Asthmatikern Atemprobleme hervorrufen. Die FDA hat vier Berichte über Asthmaattacken erhalten. Vor wenigen Tagen hat Glaxo Wellcome in England 36000 Hausärzte angeschrieben und sie auf diese Nebenwirkungen aufmerksam gemacht.
Nur eine Apotheke nahm Stellung
Nur eine Verantwortliche der ertappten Apotheken wollte gegenüber dem Puls-Tip Stellung beziehen. Johanna Lobeck von der Bellevue-Apotheke in Zürich: «Der Patient muss die beiden neuen Grippemittel innert 36 Stunden nach Auftreten der ersten Symptome nehmen. Wenn er in dieser Zeit keinen Arzt aufsuchen kann, dann geben wir ihm im Notfall die Mittel ab.»
Voraussetzung sei allerdings, dass es sich nicht um einen Patienten handle, der chronisch krank sei und den sie nicht kennen würden, sagt Lobeck. «Unsere Apotheker klären zudem ab, ob es sich wirklich um Grippesymptome handelt und ob sie bei einem Arzt Rücksprache nehmen können.» Die Puls-Tip-Mitarbeiterin ist allerdings keine regelmässige Kundin in der Bellevue-Apotheke. Die Apothekerin fragte sie weder nach dem Arzt noch nach chronischen Krankheiten.
Ärzte verschätzen sich häufig bei der Diagnose
Selbst Ärzte tun sich überdies schwer mit der Grippe-Diagnose. Der Zürcher Allgemeinmediziner Felix Huber von der HMO-Praxis Medix: «Die Diagnose ist schwierig. Ich verschätze mich häufig.»
Die Trefferquote liegt bei 50 bis 70 Prozent, wie verschiedene Untersuchungen zeigen. Oftmals handelt es sich um andere Erkältungsviren oder eben um Bakterien.
Nicht alle Ärzte sind deshalb begeistert über die beiden neuen Grippemittel. Denn auch wenn die Patienten die Medikamente rechtzeitig einnehmen, verkürzen sie die Grippedauer nur um einen bis zwei Tage. Und sie sind teuer: Relenza kostet 77, Tamiflu 86 Franken.
In den USA sprach sich die vorberatende Kommission der Gesundheitsbehörde gegen Relenza aus. Die Behörden liessen es trotzdem zu. In England ist das Grippemittel ebenfalls zugelassen, die Gesundheitsbehörden rieten aber den Ärzten, es nicht zu verschreiben.
«Es sind gute Medikamente, wenn man sie frühzeitig anwendet», sagt Grippespezialist Wunderli. Für den Allgemeinarzt Huber ist dagegen klar: «Ich verschreibe die Mittel kaum. Der Nutzen ist gering und der Preis für die Patienten zu hoch.»
Tobias Frey
Viermal wurden Apotheker weich
4 von 15 getesteten Apotheken verkauften die Grippemittel Tamiflu oder Relenza ohne ärztliche Verschreibung:
- Bären-Apotheke, Goldbrunnenplatz, Zürich
- Bellevue-Apotheke, Bellevue, Zürich
- Enge-Apotheke, Bahnhof Enge, Zürich
- Haaf'sche Apotheke, Marktgasse, Bern
In diesen Apotheken war ohne Rezept nichts zu machen:
- Adler-Apotheke, Gerbergasse, Basel
- Bahnhofapotheke, Hauptbahnhof, Zürich
- Bahnhofapotheke Hörning, Hauptbahnhof, Bern
- Epa-Apotheke, Hutgasse, Basel
- Apotheke zum Kursaal, Viktoriaplatz, Bern
- Odeon-Apotheke, Bellevue, Zürich
- Olympia-Apotheke, Am Stauffacher, Zürich
- Stadelhofen-Apotheke, Stadelhofen, Zürich
- Stadthaus-Apotheke, Stadthausgasse, Basel
- St.-Peter-Apotheke, St. Peterstrasse, Zürich
- Zweier-Apotheke, Birmensdorferstrasse, Zürich