«Kannst du mir helfen, Tochter?», fragte mich der ältere Mann im abgetragenen Anzug. Er winkte in Richtung eines Bankautomaten: «Ich möchte Geld abheben.» Ich wollte wissen, ob er seine Geheimnummer kenne. Der Mann nickte und zog mich am Ärmel zum Automaten. Er drückte mir seine Debitkarte in die Hand und ich hob 180 Euro für ihn ab. «Danke, Tochter», sagte er beim Weggehen.
Ich weiss nichts über diesen Mann. Ich traf ihn im Sommer auf einer griechischen Insel. Aber ich vermute, dass ihm der Schreck des 28. Juni 2015 noch in den Knochen sitzt. An jenem Tag schlossen in Griechenland die Banken. Kapitalverkehrskontrollen wurden eingeführt, und ohne Debitkarte kam man nicht mehr an sein Geld. Vermutlich hat sich der alte Mann, als die Schalter wieder öffneten, zum ersten Mal in seinem Leben eine Karte zugelegt. Damit er nicht noch einmal vor geschlossenen Banken stehen muss.
Bisher bezahlte man in Griechenland meist mit Bargeld. Doch die Kapitalverkehrskontrollen lösten eine «Plastikgeld Revolution» aus. Plastikgeld heisst dort: alles, was nicht Schein oder Münze ist. Barabhebungen sind immer noch in ihrer Höhe begrenzt, elektronische Zahlungen hingegen nicht. Und so nahm die Zahl der Geldgeschäfte mit Karte allein im ersten halben Jahr nach Einführung der Kontrollen um rund 130 Prozent zu.
Auch die Regierung erkannte das Potenzial. Denn elektronische Zahlungen machen die Vermögensverhältnisse der Bürger transparenter und erschweren die Steuerhinterziehung. Damit auch alle Bürger möglichst viel elektronisch bezahlen, wurde nun ein Gesetzesentwurf vorgelegt. Er sieht vor, dass alle steuerpflichtigen Griechen pro Jahr elektronische Zahlungen in bestimmter Höhe nachweisen müssen. Die Höhe bemisst sich nach dem individuellen Einkommen. Andernfalls können die Bürger ihren sonst üblichen Steuerfreibetrag nicht in Anspruch nehmen – und sogar bestraft werden.
Deshalb schaffen nun selbst Inhaber von abgelegenen Tante-Emma-Läden und Kiosken Kartenlesegeräte an. Dabei sieht das Plastikgeld-Gesetz für die Bewohner entlegener Regionen und für Bürger über 75 Jahre Ausnahmeregelungen vor.
Doch der griechische Staat unterschätzt seine älteren Bürger. Denn die wissen sich mit Plastikgeld sehr wohl zu helfen: Als ich mich vom Bankautomaten entfernte, sah ich eine alte Frau. Sie zupfte gerade eine Studentin am Ärmel: «Kannst du mir helfen, Tochter?»