Sie glauben, Sie haben heute einen klaren Kopf und verstehen auch komplizierte Sachverhalte? Dann lesen Sie, wie die Credit Suisse den Wert des strukturierten Kapitalschutz-Produkts «Opportunity Note Plus» am Ende der Laufzeit berechnet: «Die Renditen der besten 12 Aktien seit Anfangsfixierung (positiv oder negativ) werden durch 8,5 Prozent ersetzt. Für die übrigen vier Aktien wird die effektive Performance berücksichtigt. Der ausbezahlte Coupon entspricht dem arithmetischen Durchschnitt der so bestimmten Renditen (nachdem die besten 12 Renditen ersetzt worden sind).»
Alles klar? Oder möchten Sie den Absatz im CS-Originalprospekt vom 12. Oktober 2007 nochmals nachlesen? Das wäre verlorene Zeit: Der Wertpapier-Herausgeber, die US-Investmentbank Lehman Brothers, ging Mitte September 2008 in Konkurs. Das zur Risikokategorie «komplex» zählende Papier wird nicht mehr an der Börse gehandelt. Offen bleibt für die geschädigten Anleger und Gläubiger der US-Bank nur noch eine Rechnung: Wie hoch wird die Konkursdividende für das Produkt Opportunity Note Plus ausfallen? Die Konkursdividende ist der Betrag, welcher auf eine Gläubigerforderung zur Auszahlung gelangt.
Selbst Experten durchschauen Produkte nicht
Wer für das Finanzprodukt die Haftung übernehmen würde, war auf dem CS-Prospekt auch für Finanzfachleute nur schwer erkennbar. Lehman Brothers Treasury Co B.V. mit Sitz in Amsterdam fungierte auf dem CS-Prospekt als «Issuer» (Wertpapier-Herausgeber). Als «Lead manager» (führender Verwalter) der Opportunity Note Plus trat Lehman Brothers International (Europe) auf. Als «Guarantor» (Bürge) fungierte dann die Lehman Brothers Holdings Inc. in New York.
Das strukturierte Produkt wurde von der Credit Suis-se («Co-Structurer») sowie ihren Tochterbanken Neue Aargauer Bank und Clariden Leu lediglich vertrieben. Sie schädigten in der Schweiz gemäss Recherchen der Zeitschrift «saldo» (Ausgabe 15/09) am meisten Kunden. Rund 6000 Anleger hatten bei ihrer Bank solch komplizierte Produkte mit Lehman-Brothers-«Kapitalschutz» gekauft. Die CS entschädigte laut eigenen Angaben rund 3700 Kunden mit insgesamt 150 Millionen Franken für ihre Verluste. Trotz Lehman-Pleite zeichnet sich nur ein Jahr später eine Stabilisierung des Geschäfts mit strukturierten Produkten ab.
Neue Kennzahl zur Bestimmung des Risikos
«Der August zeigte erste positive Signale bei Umsätzen, Abschlüssen und zugelassenen Produkten», sagt André Buck, Verkaufs- und Marketingleiter der Derivatebörse Scoach. Dort werden Finanzprodukte gehandelt, deren Kurs vom Preis eines Basiswertes bestimmt wird (siehe unten).
Eine zentrale Frage drängt sich aufgrund des steigenden Absatzes auf: Hat die Finanzbranche aus dem Lehman-Debakel ihre Lehren gezogen? Der Schweizer Verband für strukturierte Produkte (SVSP) hat eine neue Kennzahl zur Risikobestimmung von strukturierten Produkten eingeführt, den «Value at Risk» (VaR). Er beziffert das Verlustrisiko. Zur Berechnung werden mehrere Risikofaktoren berücksichtigt wie Kursschwankungen, Zinsen und Veränderungen der Preise bei den zugrunde liegenden Basiswerten. Ein Beispiel: Macht der VaR 13 Prozent aus, so beträgt bei einer Investition von 10’000 Franken das Verlustrisiko 1300 Franken.
Der VaR wird täglich neu für die letzten 250 Handelstage berechnet und sagt das Risiko für die kommenden zehn Tage voraus. Auf der Website des SVSP (www.svsp-verband.ch) sind die VaR der an der Scoach gelisteten Produkte aufgeführt. Sie sind in sechs Risikoklassen eingeteilt. Klasse 1 steht für tiefes Risiko, Klasse 6 für hohes Risiko.
Momentaufnahme hat nur kleinen Aussagewert
«Der VaR ist gut. Aber er bleibt eine Momentaufnahme», kritisiert Heinz Kubli, Dozent am Schweizer Derivate-Institut. Grosse Marktschwankungen und Situationen wie der plötzliche Untergang von Lehman Brothers könnten wegen der zurückblickenden Perspektive nicht richtig abgebildet werden, lautet seine Meinung. Laut SVSP-Vizepräsident Paolo Vanini überlegt man sich im Verband, wie der VaR präziser ausgestaltet werden könnte. Anton Ladner, Berater des K-Geld-Service, sagt: «Strukturierte Produkte sind komplexe und meist teure Gebilde, die Anleger oft nicht verstehen. Grundsätzlich sollte man nur in Anlagen investieren, die man versteht und deren Risiken man überblickt.»
Kurz erklärt: Was sind strukturierte Produkte?
Strukturierte Produkte, oft auch Zertifikate genannt, sind kombinierte Anlageinstrumente, deren Verzinsung oder Rückzahlungswert von der Entwicklung eines oder mehrerer zugrunde liegender Basiswerte abgeleitet wird. Solche Produkte werden also aus zwei oder mehreren Anlageinstrumenten «strukturiert». Als Basiswert kommt praktisch alles in Frage, was der Finanzmarkt zu bieten hat: Aktien, Zinsen, Devisen, ein Börsenindex oder Rohstoffe.
Strukturierte Produkte gehören zu den Derivaten. Das Wort stammt vom lateinischen «derivare» (ableiten). Denn der Wert von Derivaten hängt jeweils vom «Wohlergehen» des zugrunde liegenden Basiswerts ab. Rechtlich sind strukturierte Produkte Schuldanerkennungen, für deren Erfüllung der Wertpapier-Herausgeber – meist eine Bank – mit seinem ganzen Vermögen haftet. Falls der Herausgeber Pleite geht, ist das Geld in der Regel komplett verloren.
Strukturierte Produkte fallen nicht unter den Einlegerschutz, weil sie Darlehen an den Herausgeber sind. Sie gelten auch nicht als geschütztes Sondervermögen wie zum Beispiel Anlagefonds.