Vitaminpillen: Dr. med. Coiffeur
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Gesundheitstipp 3/2002
01.03.2002
Coiffeure und Kosmetikerinnen wildern im Gesundheitsmarkt: Sie verkaufen teure Vitaminpillen. Wissenschaftler und Ärzte warnen: Die Tabletten sind unnötig, die Geschäftspraktiken unseriös.
Regula Schneider rschneider@pulstipp.ch
Wer im Coiffuresalon von Marlies Meier* zum ersten Mal auf dem Frisierstuhl sitzt, muss sich Zeit nehmen. Und darf sich nicht wundern. Denn es geht nicht allein ums Haareschneiden: «Manchmal sagt eine Kundin, sie sei häufig müde und b...
Coiffeure und Kosmetikerinnen wildern im Gesundheitsmarkt: Sie verkaufen teure Vitaminpillen. Wissenschaftler und Ärzte warnen: Die Tabletten sind unnötig, die Geschäftspraktiken unseriös.
Regula Schneider rschneider@pulstipp.ch
Wer im Coiffuresalon von Marlies Meier* zum ersten Mal auf dem Frisierstuhl sitzt, muss sich Zeit nehmen. Und darf sich nicht wundern. Denn es geht nicht allein ums Haareschneiden: «Manchmal sagt eine Kundin, sie sei häufig müde und blass. Das ist dann ein idealer Einstieg ins Thema Nahrungsergänzung», erzählt die Zürcher Coiffeuse. Früher oder später komme sie mit jeder Kundin darauf zu sprechen.
Marlies Meier nennt sich Haarologin. Sie vertritt die Philosophie der Firma «Haarologi of Sweden», die auch in der Schweiz zahlreiche Coiffuregeschäfte bedient. «Um richtig gesundes, schönes und glänzendes Haar zu haben, müssen wir es von innen durch Vitaminzuschüsse aufbauen», verkündet die Firma in einer Werbebroschüre. Und: «Der Haarologe weiss, welche Kostzuschüsse Sie brauchen, um Ihr Haar von innen her aufzubauen.»
Haarologen gehen mit einem ganzen Arsenal von Vitaminpillen auf die Kunden los. Die Bandbreite reicht von Multivitamintabletten und Vitamin-C-Pulver über Kalzium-Tabletten mit Vitamin E und Eisen-Tabletten bis hin zu Haferfasernkomprimat mit Magnesium. Doktor Coiffeur verkauft selbst norwegischen Tang, Algenextrakte und Ölmischungen mit gesättigten und ungesättigten Fettsäuren. Die Präparate sollen Haar, Haut und Nägel verschönern, zu einem besseren allgemeinen Wohlbefinden führen, das Immunsystem stärken und Krankheiten vorbeugen. Die Hersteller behaupten, die Wirkung der Inhaltsstoffe sei wissenschaftlich belegt.
82 Millionen Franken gibt die Schweizer Bevölkerung jährlich für Vitaminpillen aus. Jetzt will sich auch die Schönheitsbranche ein grosses Stück vom Kuchen abschneiden. Die Geschäftemacherei stösst auf harsche Kritik: «Augenwischerei» nennt es Gerhard Rechkemmer, Leiter des Instituts für Ernährungsphysiologie im deutschen Karlsruhe. «Dass einzelne dieser Stoffe wirken, ist seit langem bekannt», sagt er, «Kombinations- und Wechselwirkungen der Substanzen sind jedoch wissenschaftlich kaum untersucht.»
Wahllos Pillen und Pülverchen zu schlucken kann sogar gefährlich sein. Denn zu viele Vitamine schaden. Das ist vor allem bei den fettlöslichen Vitaminen A, D, E und K der Fall: «Zu viel Vitamin A kann die Schleimhäute verändern, Gelenkschmerzen hervorrufen oder das Wachstum von Kinderknochen hemmen», sagt Fritz Horber, Stoffwechsel- und Übergewichtsspezialist an der Klinik Hirslanden in Zürich. Ein Übermass an Vitamin D führe zu Kalziumablagerungen in den Knochen und verursache Hautprobleme.
Die Coiffeure verdienen an den Produkten gut mit
Laut Bundesamt für Gesundheit nehmen die Menschen in der Schweiz genügend Vitamine und Mineralstoffe zu sich. Die Fachgesellschaften für Ernährung aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sagen übereinstimmend, dass man den Bedarf mit einer ausgewogenen Ernährung decken kann.
Die Produkte der Firma Haarologi sind jedoch nicht nur überflüssig, sondern auch sehr teuer: Für 60 Dunella-Algen-Tabletten muss die Kundin Fr. 118.50 hinblättern. Auch die Coiffeure machen dabei einen guten Schnitt: Sie bezahlen für 750 Gramm Vitamin-C-Pulver Fr. 39.50, verrechnen dem Kunden aber mit Fr. 81.20 das Doppelte!
Josianne Walpen von der Stiftung für Konsumentenschutz hält diese Geschäftspraktik für unseriös: «Die Kundinnen sehen Coiffeusen und Kosmetikerinnen als kompetente Fachpersonen», empört sie sich, «und werden über den Tisch gezogen.»
Ursula Gröbly von der Schweizerischen Patientenorganisation reagiert ungehalten: «Die Coiffeure massen sich an, wie Ärzte zu handeln.» Und das in einem komplizierten Fachgebiet: «Sogar Ärzte und Apotheker müssen sich weiterbilden, damit sie in Nährstoff-Fragen kompetent beraten können», sagt Professor Rechkemmer. Er ist überzeugt: «Coiffeusen und Kosmetikerinnen sind mit diesem Thema weit überfordert.» Wenn jemand wirklich das Gefühl habe, unter einem Mangel zu leiden, solle er das beim Hausarzt oder bei einer Ernährungsberatung abklären lassen.
Haarmineralanalysen kosten 340 Franken
Die Haarologen sprechen ihre Kunden meistens auf Haar- oder Hautprobleme, Müdigkeit, Blässe oder Verdauungsstörungen an. Sie behaupten, das seien Symptome für Mangelerscheinungen. «Viele Leute glauben dies, weil die Symptome so einleuchtend klingen und weit verbreitet sind», sagt Monika Eichholzer vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin in Zürich.
«Erzählt die Kundin von Wadenkrämpfen, vermute ich einen Magnesiummangel», plaudert die Coiffeuse Marlies Meier aus. «Und wenn jemand häufig müde und blass ist, schliesse ich auf Eisenmangel.»
Doch so einfach ist es nicht. «Es ist schwierig nachzuweisen, dass solche Symptome von einem Nährstoffmangel stammen», sagt die Präventivmedizinerin Monika Eichholzer, «sie können auch ganz andere Ursachen haben.»
Teure Haarmineralanalysen ziehen den Kundinnen zusätzlich Geld aus der Tasche: Sie kosten Fr. 340.-. Wer ohne ersichtlichen Grund Haar- oder Hautprobleme hat, dem versuchen die Haarologen eine Haarmineralanalyse aufzuschwatzen. Zu diesem Zweck schneidet die Coiffeuse rund ein Gramm Haar vom Hinterhaupt der Kundin ab und schickt es in ein Labor nach Rapperswil zur Analyse. Dieses schickt das Material in ein weiteres Labor nach Schweden. Nach ungefähr zehn Tagen erhält das Coiffuregeschäft ein Gutachten und eine Empfehlung für Pillen und Pulver. Das Bedenkliche: Der Produkte-Hersteller und das Labor, das die Analyse auswertet, sind identisch.
«Bei solchen Praktiken steht das Geldverdienen im Vordergund und nicht qualifizierte Diagnostik», sagt Reinhard Saller, Professor für Innere Medizin und Naturheilkunde am Universitätsspital Zürich. Haarmineralanalysen seien für diagnostische Zwecke nicht geeignet: «Selbst wenn die Auswertung stimmt, kann man nur schwer daraus schliessen, was das für die Gesundheit bedeutet.» Aus dem Mineralbestand der Haare auf Krankheiten zu schliessen sei beim derzeitigen wissenschaftlichen Stand nicht möglich.
Experten bezweifeln Nutzen der Haarmineralanalyse
«Die Haarmineralanalyse konnte sich als Diagnose-Verfahren nicht durchsetzen», bestätigt Stoffwechselspezialist Fritz Horber. Im Vergleich mit der Blutanalyse gerät sie ins Hintertreffen: «Im Blut kann man nicht nur das Verhältnis von Spurenelementen und Vitaminen feststellen. Man kann teilweise auch messen, wie viel der Körper davon speichern kann. Das kann die Haarmineralanalyse nicht.»
«Die diagnostische Bedeutung der Haaranalyse wird sich durchsetzen», behauptet Heidi Müller von der Haarologi AG in Frauenfeld. Und Jürgen Hoffarth, Schulungsleiter und Experte für angewandte Haarologi aus dem deutschen Altensteig sagt, dass Blut- und Haarmineralanalysen nicht vergleichbar seien. «Die Blutanalyse zeigt den aktuellen Stand des Mineralstoffhaushaltes, die Haarmineralanalyse die Werte der letzten drei bis vier Monate.»
Sandra Weber** aus St. Gallen machte mit einer Haarologi-Haarmineralanalyse allerdings schlechte Erfahrungen. Ihre Schwiegermutter litt an Haarausfall, Schmerzen an der Haarwurzel und einem hartnäckigen Gesichtsausschlag. Auf Rat der Haarologin liess die Seniorin eine Haaranalyse machen und schluckte in der Folge die teuren Pillen: «Die Haarmineralanalyse konnte nicht feststellen, dass meine Schwiegermutter an einer Haarwurzelkrankheit leidet, obwohl sogar Wurzeln eingeschickt wurden.» Für den Gesichtsausschlag sei ein Darmpilz verantwortlich gewesen. «Beide Krankheiten sind erst durch Bluttests ans Tageslicht gekommen.»
Auch Firmen, die Vitaminpräparate herstellen, verdienen sich eine goldene Nase. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Kosmetikfirma Liguma AG in Schaffhausen. Sie bezeichnet sich als Marktführerin auf dem Markt der Nahrungsergänzungen und preist ihre Vitamin- und Mineralstoffpräparate im Internet und an Kosmetikpartys an.
Unternehmen wie die Liguma AG und die Haarologi AG sagen, dass es in der heutigen Zeit nicht möglich sei, allein durch die Ernährung genügend Nährstoffe zu sich zu nehmen. «Es geht am Zeitgeist vorbei, dauernd gesunde Ernährung zu predigen, da sie sich praktisch niemand aus Mangel an Zeit und Geld leisten kann», sagt Marcel J. Dezsö, Inhaber und Geschäftsführer der Liguma AG. Die meisten Menschen würden sich falsch oder einseitig ernähren. Und Heidi Müller von der Haarologi AG in Frauenfeld fügt hinzu: «Die Fehlernährung ist eines der grossen Probleme der Menschen.»
Die Puls-Tipp-Ernährungsfachfrau Carine Buhmann warnt davor, sich von solchen Werbesprüchen beeindrucken zu lassen. Sich gesund zu ernähren sei keine Hexerei: «Es ist von Vorteil, täglich auf eine ausgewogene Ernährung zu achten. Aber letztlich sollte einfach die Bilanz über eine Woche verteilt stimmen.»
Professor Gerhard Rechkemmer ist entsetzt über die Verunglimpfung der gesunden Ernährung. Er hält Nahrungsergänzungen für unnötig: «Allein der Begriff suggeriert, dass unsere Nahrung heute nicht mehr alle notwendigen Inhaltsstoffe enthält, um gesund zu bleiben», kritisiert er. Eine ausgewogene Mischkost mit hohem Anteil an Gemüse, Obst und Vollkornprodukten, Milchprodukten, Fisch und magerem Fleisch liefere alle Nährstoffe, die ein gesunder Mensch brauche. Keines der Haarologi- oder Liguma-Präparate sei notwendig oder sinnvoll.
Die Hersteller verteidigen die hohen Preise
Die Produkte der Liguma AG seien wirkungsvoll und würden nach «höchstem Qualitätsstandard» produziert, rechtfertigt sich Dezsö: «Natürliche Produkte haben ihren Preis und sind nicht mit synthetischen Billigwaren vergleichbar.» Auch Heidi Müller findet ihre Preise gerechtfertigt: «Wenn ich sehe, was synthetische Erzeugnisse kosten, frage ich mich, weshalb man gerade uns zu hohe Preise vorwirft.» Ausserdem sei es nicht gesundheitsschädlich, «die Kunden mit den richtigen Proteinen zu verwöhnen. Wir möchten den Menschen helfen und ihnen nicht irgendetwas unterjubeln.» Beide Firmen betonen, dass ihre Geschäftspraktik seriös und ihre Beraterinnen gut ausgebildet seien: «Unsere Fachberater sind nicht einfach Coiffeusen, sondern Haarologen, die eine Spezialausbildung genossen haben», sagt Heidi Müller.
Sandra Weber war nach einer Haarologi-Vorführung davon überzeugt, die Tabletten zu brauchen. Bewährt haben sie sich nicht. Heute vertraut die zweifache Mutter wieder einer gesunden Ernährung: «Ich koche seit Jahren ausgewogen und vielseitig. Ich sehe nicht ein, weshalb ich als gesunder Mensch Tabletten schlucken soll.»
** Name von der Redaktion geändert
So erkennen Sie unseriöse Fachleute
- Sie erzählen von den wundersamen Auswirkungen, die Vitamine und Mineralstoffe im Körper haben, und von den schrecklichen Folgen einer Unterversorgung. Sie sagen Ihnen nicht, dass Sie Mangelerscheinungen allein mit einer ausgewogenen, gesunden Ernährung beheben können.
- Sie behaupten, dass die meisten Menschen unter Mangelerscheinungen leiden.
- Sie behaupten, dass die heutigen Lebensmittel ihre Nährstoffe beim Kochen verlieren. Sie verschweigen, dass nur wenige Vitamine hitzeempfindlich sind. Hitze kann auch Mineralstoffe nicht zerstören.
- Sie behaupten, dass die Bodenerschöpfung sowie Düngemittel die Nahrungsmittel weniger gesund und nahrhaft machen. Sie verschweigen, dass eine Pflanze ganz einfach nicht wächst, wenn dem Boden ein existenzieller Nährstoff fehlt.
- Sie behaupten, dass die meisten Krankheiten Folgen falscher Ernährung sind. Sie haben mit der Ernährung jedoch nicht viel zu tun. Symptome wie Unwohlsein, Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Kopfschmerzen, Schlafstörungen etc. sind meist Reaktionen auf psychischen Stress. Wenn solche Symptome lange anhalten, sollte man einen Arzt aufsuchen.
- Sie behaupten, natürliche Vitamine seien besser als synthetische. Sie verschweigen, dass der einzige Unterschied zwischen natürlichen und synthetischen Vitaminen in der Art besteht, wie sie gewonnen werden. Die Moleküle sind chemisch absolut identisch und haben dieselbe Wirkung.
- Sie stützen ihre Behauptungen durch Anekdoten und Erfahrungsberichte.
Buchtipp: Carine Buhmann, Theres Berweger, «Lebensmittel-Pyramide - ausgewogen essen», Fona Verlag, Fr. 19.90.