«Die Suva hat mich einfach abserviert»
Seit einem Treppensturz hat Daniel Hunziker konstant Rückenschmerzen. Doch die Suva behauptet plötzlich, er sei schon vor dem Unfall krank gewesen und stellte die Zahlungen ein. Fachleute kritisieren, dass die Suva so immer wieder Patienten abschiebt.
Inhalt
Gesundheitstipp 10/2004
13.10.2004
Christian Egg - cegg@pulstipp.ch
Seit über einem Jahr ist Daniel Hunziker zum Nichtstun verdammt. Wegen starker Rückenschmerzen musste er seine Lehre als Polymechaniker abbrechen. «Länger als 45 Minuten kann ich nicht mehr stehen», sagt der 19-Jährige. Nachts kann er häufig vor lauter Schmerzen nicht schlafen.
Doch die Unfallversicherung Suva weigert sich anzuerkennen, dass Daniel Hunzikers Schmerzen die Folgen eines Unfalls sind - und bezahlt nicht mehr. «Dabei hatte ich zuvor nie Rückenprobleme», sagt...
Seit über einem Jahr ist Daniel Hunziker zum Nichtstun verdammt. Wegen starker Rückenschmerzen musste er seine Lehre als Polymechaniker abbrechen. «Länger als 45 Minuten kann ich nicht mehr stehen», sagt der 19-Jährige. Nachts kann er häufig vor lauter Schmerzen nicht schlafen.
Doch die Unfallversicherung Suva weigert sich anzuerkennen, dass Daniel Hunzikers Schmerzen die Folgen eines Unfalls sind - und bezahlt nicht mehr. «Dabei hatte ich zuvor nie Rückenprobleme», sagt er.
Zuvor - das heisst vor dem 29. August 2003. An diesem Tag rutschte er auf dem Weg zur Arbeit aus, fiel aufs Gesäss und rutschte fünf oder sechs Stufen eine Treppe hinunter. Er hatte Schmerzen, konnte kaum mehr gehen. Das Spital Grenchen stellte eine Prellung der Lendenwirbelsäule fest und gab ihm Schmerzmittel. Dies war der Anfang einer langen Leidensgeschichte:
2. September. Als die Schmerzen auch nach vier Tagen nicht aufhören, geht Daniel Hunziker zum Hausarzt. Der verschreibt ihm ein anderes Schmerzmittel und Bett-ruhe. «Er sagte mir, die Prellung werde in ein paar Tagen wieder abklingen», erinnert sich Daniel Hunziker.
16. September. Die Schmerzen sind nur leicht zurückgegangen, noch immer kann Daniel Hunziker nicht normal gehen. Der Hausarzt schickt seinen Patienten zum Röntgen ins Spital. Der knappe Bericht hält fest: «keine Befundänderung».
26. September. Der Hausarzt schickt ihn zur Magnetresonanz-Untersuchung (MRI). Befund: leichte Abnützung des Knorpels zwischen dem untersten Lendenwirbel und dem Kreuzbein.
2. Oktober. Weil der Hausarzt in den Ferien ist, bespricht eine Stellvertreterin die MRI-Bilder mit Daniel Hunziker. In ihrem Brief an den Hausarzt schreibt sie, sie habe dem Patienten erklärt, dass eine solche Abnützung häufig sei, selbst bei jungen Menschen. Der Sturz auf den Rücken habe den Schmerz aber aktiviert.
3. Oktober. Zwischenbericht des Hausarztes an die Suva: Trotz intensiver Physiotherapie und Schmerzmitteln «keine Besserung der Beschwerden». Eine Untersuchung durch den Suva-Kreisarzt sei «zur Standortbestimmung sinnvoll».
29. Oktober. Der stellvertretende Suva-Kreisarzt untersucht Daniel Hunziker. Fazit: Er sei zu 100 Prozent arbeitsunfähig.
23. Dezember. Seit dem Unfall sind vier Monate vergangen. «Langsam hatte ich von den Schmerzen die Nase voll», sagt Daniel Hunziker. Erneut untersucht ihn die Suva, diesmal Kreisarzt Jürg Liechti. Er stellt «Zeichen einer Chronifizierung» fest und schickt ihn in die Rehabilitationsklinik Zurzach.
9. Februar 2004. Nach vier Wochen Kur geht es Daniel Hunziker etwas besser: «Ich konnte wieder normal gehen, aber die Schmerzen waren immer noch da.» In Absprache mit den Ärzten in Zurzach geht er wieder zur Arbeit - versuchsweise: Während vorerst einer Woche soll er halbtags arbeiten.
Der Empfang im Betrieb ist schroff, der Lehrmeister macht ihm Vorwürfe wegen seiner langen Abwesenheit. «Er sagte mir, ich müsse jetzt 120 Prozent Einsatz zeigen oder ich könne meine Lehre vergessen», erinnert sich Hunziker.
12. Februar. Das Stehen während der Arbeit verursacht Hunziker unerträgliche Schmerzen, und auch das Gehen macht ihm wieder Mühe. Er bricht den Versuch ab. Der Lehrmeister verlangt eine weitere Untersuchung beim Kreisarzt.
16. Februar. Termin bei Kreisarzt Liechti. «Das war eine absolute Farce», erinnert sich Daniel Hunziker: «Die körperliche Untersuchung dauerte gerade fünf Minuten. Sobald ich bei einer Bewegung Schmerzen verspürte, brach der Arzt die Übung ab und wechselte zu einem anderen Körperteil. Ihn hat weder die Art noch die genaue Stelle des Schmerzes interessiert.»
Bisher hatte die Suva sowohl Arztkosten als auch den Erwerbsausfall anstandslos bezahlt. Kreisarzt Liechti kommt nun aber plötzlich zum Schluss, der Unfall sei nicht die Ursache von Hunzikers Schmerzen: Die «noch geringen Restbeschwerden» sollten in spätestens sechs Wochen verschwinden; «meines Erachtens wären weitergehende Symptome und Beschwerden nicht mehr unfallkausal zu erklären», schreibt Liechti in seinem Bericht.
29. März. Brief der Suva an Daniel Hunzikers Arbeitgeber: Die «unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit» betrage ab dem 1. April null Prozent. «Die Taggeldzahlungen enden mit diesem Datum.»
14. April. Brief der Suva an Daniel Hunziker: Seine Beschwerden seien «nicht mehr unfallbedingt, sondern ausschliesslich krankhafter Natur». Die Versicherung müsse nicht mehr bezahlen, die Kosten weiterer Behandlungen gingen zu Lasten der Krankenkasse. Begründung: Es sei «derjenige Zustand eingetreten, wie er sich nach dem schicksalsmässigen Verlauf eines krankhaften Vorzustandes auch ohne Unfall mit Wahrscheinlichkeit eingestellt hätte». Doch weder die Suva noch Kreisarzt Jürg Liechti machen deutlich, worin dieser «krankhafte Vorzustand» bestehe.
Für Daniel Hunziker ist klar: «Die Suva hat mich einfach abserviert.» Indirekt habe man ihm auch zu verstehen gegeben, er sei faul und ein Simulant. Deutlich wird dies im Bericht eines Rheumatologen, der Daniel Hunziker im Auftrag der Suva ebenfalls untersuchte: Die Rückenschmerzen seien «am ehesten im Rahmen einer Symptomausweitung» erklärbar. Cornelia Meier, Daniel Hunzikers heutige Hausärztin, sagt dazu: «Dieser Begriff stammt aus der Psychosomatik. Ärzte wählen ihn aber, wenn sie Patienten als Simulanten beurteilen.»
Suva-Arzt stellte die verhängnisvolle Diagnose
Die Suva schreibt zu dem Fall, sie habe Daniel Hunziker nicht abserviert, sondern während immerhin acht Monaten Arztkosten und Taggeld bezahlt. «Wenn danach festgestellt wird, dass die Schmerzen nicht mehr Folgen des Unfalls sind, so kann dies wohl kaum als "plötzlich" bezeichnet werden. Die meisten Unfallfolgen sind irgendwann einmal zu Ende.»
Zum Vorwurf, Kreisarzt Liechti habe Daniel Hunziker zu oberflächlich untersucht, schreibt die Suva, diese Untersuchung sei nur eine von mehreren medizinischen Beurteilungen: «Herr Hunziker wurde wiederholt und eingehend untersucht.»
Hunzikers Geschichte kommt Anwälten bekannt vor. Bruno Häfliger, Rechtsanwalt in Luzern: «Es kommt immer wieder vor, dass ein Kreisarzt einen Patienten von einem Tag auf den anderen als 100 Prozent arbeitsfähig einstuft.»
Der Zuger Anwalt Max Sidler hat in den letzten 15 Jahren Dutzende solcher Fälle betreut. Bei Rückenschäden, so Sidler, müsse die Suva mit lebenslangen, sehr hohen Kosten rechnen. «Deshalb wollen die Suva-Kreisärzte solche Patienten schon nach wenigen Monaten an die Krankenkassen abschieben.»
Für die Beurteilung, ob Beschwerden von einem Unfall herrühren oder nicht, seien Kreisärzte nicht genügend qualifiziert, kritisiert Sidler. Das Problem sei aber, dass das Eidgenössische Versicherungsgericht in Luzern die Kreisärzte für neutral halte, obwohl sie von der Suva angestellt seien. «Die Kreisärzte haben von höchster Stelle einen Heiligenschein bekommen.»
Das ist ein grundsätzliches Problem - und gilt nicht nur für die Suva: Wenn sich die Versicherung und der Verunfallte streiten, kann die Diagnose eines Versicherungs-arztes entscheidend sein. Dies gilt auch bei Streitigkeiten mit Unfallversicherern wie Winterthur, Zürich oder Basler Versicherungen. Das heisst: Im schlimmsten Fall entscheiden Ärzte, die von der Versicherung angestellt sind und bezahlt werden. Es besteht dann die Gefahr, dass sie eher zu Gunsten des Unternehmens als zu Gunsten des Versicherten entscheiden.
Für die Suva - eine selbständige öffentlich-rechtliche Anstalt - gilt dies allerdings nicht. Sie wehrt sich denn auch gegen den Vorwurf, sie wolle Rückenpatienten abschieben: «Langfristige Kosten sind für uns kein Grund, Leistungen zu verweigern.» Die Suva räumt allerdings ein, dass «Gesundheitsschäden, die sowohl krankheits- wie unfallbedingt sein können (wie zum Beispiel Rückenbeschwerden) häufiger zu Diskussionen und unterschiedlichen Beurteilungen» führen als andere.
Hunziker hofft, bald eine Lehre beginnen zu können
Das Eidgenössische Versicherungsgericht nimmt zu Sidlers Vorwurf, es verleihe den Suva-Ärzten einen Heiligenschein, keine Stellung. Zwar erhalte die Suva vor der höchsten Instanz oft Recht. Aber dies «sagt lediglich aus, dass die kantonalen Gerichte aus Sicht des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes relativ häufig rechtmässig entschieden haben. Dies ist nichts Aussergewöhnliches, zumal auch sie dem Recht verpflichtet sind», schreibt das Gericht dem Pulstipp.
Daniel Hunziker weiss noch nicht, ob er den Entscheid der Suva vor Gericht anfechten wird: «Ein Anwalt hat mir abgeraten.» In erster Linie will er jetzt wieder gesund werden. Derzeit ist er in der Schmerzklinik Basel in Behandlung. Dann will er so bald wie möglich eine kaufmännische Lehre anfangen.
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