Seine Stimme klingt warm und voller Geduld: «Machen Sie sich keine Sorgen, Ihr Blutdruck ist nicht beunruhigend.» Der Hausarzt Etzel Gysling telefoniert mit einer Patientin. Sonst ist es ruhig an diesem Morgen in der kleinen Gemeinschaftspraxis im Hochparterre eines alten Hauses in Wil SG.
«Eigentlich wollte ich nie eine eigene Praxis. Aber ich brauchte Geld und Sicherheit für die Zeitschrift ‹Pharma-Kritik›», erzählt Gysling. Denn das war sein Traum: Eine unabhängige Medikamentenzeitschrift gründen, die über den wahren Nutzen und die Risiken von Arzneien aufklärt. Frei von kommerziellen Interessen. Einzig dem Wohl der Patienten verpflichtet.
Als junger Arzt nach Kanada ausgewandert
Zum dunkelgrauen Hemd trägt Gysling eine schwarze Hose. Die Kleidung betont seine hohe, schlanke Figur. Im Stuhl hinter dem grossen Schreibtisch lehnt er sich zurück, er nimmt die Brille ab und fährt sich mit der Hand durch die grauen Haare. An der Wand hängt eine Schwarz-Weiss-Aufnahme vom Zürcher Grossmünster – Erinnerung an seine Heimatstadt.
Nach dem Studium in Zürich zieht der junge Arzt 1970 mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern ins kanadische Sherbrooke, um eine Stelle als Assistenzprofessor anzutreten. Die Familie fühlt sich bald wohl in der neuen Heimat. Zu den ersten beiden Kindern kommen noch zwei hinzu.
«Alle hielten mich für verrückt»
Aber Etzel Gysling hat eine fixe Idee: In vielen Ländern erscheinen zu dieser Zeit bereits werbefreie Arzneimittel-Blätter, die unabhängig über Medikamente informieren. Nicht so in der Schweiz. Gysling will das ändern. Es geht ihm um die bestmögliche Therapie: «Die Pharmafirmen wollen ihre Produkte teuer verkaufen und Gewinn machen. Etwas anderes zählt da nicht.» Für Gysling hingegen zählt der kranke Mensch. Von seiner Idee ist er derart überzeugt, dass er die renommierte Stelle in Kanada kündigt. «Alle hielten mich für verrückt.»
Im Jahr 1977 zieht die Familie zurück in die Schweiz. Beruflich ist es eine Rückkehr ins Ungewisse. Gelassen spricht Gysling heute über die anfänglichen Unsicherheiten: «Natürlich hatte ich Zweifel. Eine Vollzeitpraxis wäre lukrativer gewesen.»
Er nimmt die finanziellen Nachteile in Kauf. Zwei Jahre später gründet er mit zwei befreundeten Ärzten den Infomed-Verlag. Im gleichen Jahr drucken sie die erste Ausgabe der «Pharma-Kritik»: Vier dichtbeschriebene A4-Seiten, schwarze Schrift auf weissem Papier, am linken Rand vier Löcher zum Abheften. So sieht die Zeitschrift noch heute aus. Nüchtern, ohne Schnörkel. Und vor allem: ohne Werbeanzeigen. Dafür ist sie voller medizinischer Fachbegriffe – schwere Kost für Laien.
Doch wissenschaftlicher Anspruch und Genauigkeit sind Gyslings schärfste Waffen: Schon bald kann in der Schweiz die «Pharma-Kritik» niemand mehr ignorieren, der sich mit der Wirkung von Medikamenten befasst. In vielen Fällen werden Gysling und sein Team zu Frühwarnern, deren öffentliche Kritik sich später bewahrheitet.
Etwa im Skandal um das Rheumamittel Vioxx: Der Hersteller Merck Sharp & Dohme musste das Medikament 2004 weltweit vom Markt nehmen, weil es Herzinfarkte und Schlaganfälle verursachte. Die «Pharma-Kritik» hatte sich bereits fünf Jahre vorher skeptisch geäussert.
Auch im Fall der Antibabypille Yasmin erkannte Gysling früh Ungereimtheiten. Bereits 2002 kritisierte er, dass das möglicherweise erhöhte Thrombose-Risiko dieser Pille nicht hinreichend erforscht sei. Elf Jahre später geriet die Pille Yasmin öffentlich in Verruf – die junge Céline Pfleger hatte nach der Einnahme eine Lungenembolie erlitten und ist seither schwerbehindert.
Der Pharmaindustrie ist Gysling – wenig überraschend – ein Dorn im Auge. Mehrfach wollen Unternehmen ihn für seine Artikel verklagen. Er bleibt sachlich: «Es liess sich immer lösen.» Auf dreiseitige Briefe vom Anwalt habe er mit fünf Seiten voller medizinischer Fakten geantwortet. Zu einer grossen Auseinandersetzung mit der Industrie ist es auf diese Weise nie gekommen.
Denn Gysling sucht nicht die Konfrontation. «Meine Arbeit empfinde ich nicht als Kampf. Ich will damit nur zeigen, was nicht stimmt.» Er ist keiner, der sich in den Vordergrund drängt. Lieber hinterfragt er, bleibt kritisch, präzise, unaufgeregt – auch wenn das bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen. Die Kraft dazu geben ihm seine Familie und das kleine Team der «Pharma-Kritik».
Fundierte Recherchen, klare Stellungnahmen
Auf der Jahrestagung des Kollegiums für Hausarztmedizin ist Etzel Gysling zum «Kopf 2016» gekürt worden. Präsidentin Franziska Zogg bewundert sein Wissen und seine Unabhängigkeit: «Er vertritt seine Meinung – egal, ob er damit jemandem auf die Füsse tritt.»
Interpharma, der Verband der Pharmaunternehmen, äussert sich nur knapp: Es habe keine Reibungen gegeben. Kritiker finden sich in der Öffentlichkeit nicht. Gyslings fundierte Recherchen, seine klaren Stellungnahmen und sein unerschrockener Einsatz im Interesse der Patienten haben ihn in all den Jahren unangreifbar gemacht.
Nimmt man im Hause Gysling eigentlich Medikamente, wenn mal jemand krank ist? «Ja, ja», schmunzelt er. «Ein bisschen Glauben an die Medizin habe ich mir schon noch bewahrt.»