Spätaborte - Frühgeburten - Zum Sterben geboren - Zum Leben gezwungen
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Gesundheitstipp 1/2000
01.01.2000
Ärzte und Hebammen müssen immer häufiger behinderte Babys abtreiben, obwohl sie lebensfähig wären. Auf der anderen Seite müssen sie viel zu früh geborene Babys mit allen Mitteln am Leben erhalten, obwohl diese «Frühchen» später oft unter schweren Störungen leiden. Die Crux der Hightech-Medizin spüren vor allem Hebammen.
«Das Schwierige ist, dass an einem Trisomie-21-Kind alles dran ist, dass es lebensfähig wäre. Und doch», sagt Doris Bachmann (Name geändert), «n...
Ärzte und Hebammen müssen immer häufiger behinderte Babys abtreiben, obwohl sie lebensfähig wären. Auf der anderen Seite müssen sie viel zu früh geborene Babys mit allen Mitteln am Leben erhalten, obwohl diese «Frühchen» später oft unter schweren Störungen leiden. Die Crux der Hightech-Medizin spüren vor allem Hebammen.
«Das Schwierige ist, dass an einem Trisomie-21-Kind alles dran ist, dass es lebensfähig wäre. Und doch», sagt Doris Bachmann (Name geändert), «neigt die Gesellschaft heute dazu, solchen Kindern die Lebensberechtigung abzusprechen, nur weil sie etwas anders sind.» Doris Bachmann ist Spitalhebamme und somit von der Pränatal-Diagnostik stark betroffen.
Keine Frau kommt heute darum herum, sich mit dem breiten Testangebot auseinanderzusetzen - schon gar nicht, wenn sie, wie viele Schwangere heute, über 35 Jahre alt ist. Weil das Kontrollnetz immer engere Maschen hat, finden Ärzte mehr veränderte Chromosomen, Fehlbildungen und Stoffwechselkrankheiten.
Das hat Konsequenzen. 92 Prozent der Paare, denen Ärzte ein Baby mit Trisomie 21 (auch Down-Syndrom, veraltet: Mongolismus) diagnostizieren, brechen die Schwangerschaft ab. Das hat das Institut für Medizinische Genetik der Uni Zürich festgestellt.
Doch weil aussagekräftige Tests das Resultat erst in der 18. bis 22. Schwangerschaftswoche liefern, ist es für die Absaugmethode bereits zu spät. So muss der Arzt mit Hormonen eine Fehlgeburt einleiten. Wie viele solche eingeleiteten Spät-Aborte es in der Schweiz gibt, weiss man nicht genau; Schätzungen gehen von etwa 600 Fällen pro Jahr aus - mit steigender Tendenz.
Für die betroffenen Frauen ist diese «Geburt zum Tod» eine kaum auszuhaltende Belastung. «Viele haben das Gefühl, ein Monster zu gebären, und wollen "es" möglichst rasch hinter sich bringen», stellt Doris Bachmann fest. Sie und ihre Kolleginnen motivierten die Mütter jeweils, von ihrem Kind bewusst Abschied zu nehmen. Um den Trauerprozess zu unterstützen, machen die Hebammen ein Foto und nehmen Fussabdrücke des toten Kindes.
In seltenen Fällen lebe das Baby noch kurz und ringe nach Luft, sagt Doris Bachmann. «Wir wickeln es dann in Windeln und bleiben bei ihm, bis es stirbt.»
Was fühlt die Hebamme in solchen Momenten? «Sehr starke Trauer. Aber auch eine enorme Wut auf die Gesellschaft, welche Kinder, die lebensfähig wären, aber ein wenig anders sind, nicht mehr toleriert.»
Zwei besonders tragische Fälle von späten Abtreibungen kennt man aus Deutschland (das so genannte «Oldenburger Baby») und aus Italien: Beide Föten hätten wegen Fehlbildungen in der 25. Schwangerschaftswoche sterben sollen. Sie überlebten den Abort jedoch - wenn auch schwer behindert.
Schwangerschaftsabbruch bis zum 6. Monat möglich
Auch in der Schweiz gibt es keine gesetzliche Limite für den medizinisch begründeten Schwangerschaftsabbruch. Die Schweizerische Vereinigung für Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs kennt indes kein Schweizer Spital, das nach der 24. Schwangerschaftswoche noch Abbrüche vornimmt.
Emotional eher noch schwieriger als eine Abtreibung findet Doris Bachmann die entgegengesetzte Situation: Paare, die zuerst alles unternehmen, damit sie keine Kinder bekommen - und dann später unbedingt eines wollen. Und weil es dank der modernen Medizin auch oft machbar ist, möchten sie ihr Baby um jeden Preis behalten - auch wenn es extrem früh zur Welt kommt. «Da kämpft ein 500, 600 Gramm leichtes Wesen um sein Leben, mehrmals am Tag setzt seine Atmung aus», erzählt Doris Bachmann. «Als Hebamme stehe ich zwischen den Eltern und den Ärzten und frage mich, ob das Kind wirklich da sein will oder ob es nicht doch lieber hätte gehen wollen.»
Immer häufiger müssen Ärzte Winzlinge aufpäppeln
Vor solchen Fragen stehen die Spezialisten für Neugeborene (Neonatologen) immer häufiger. Die Zahl der Babys, die bei der Geburt leichter sind als ein Kilo (normal wären etwa 3,5 Kilo), hat sich in den letzten 20 Jahren in der Schweiz von 87 auf 240 pro Jahr verdreifacht.
Auch hier spielen die pränatale Diagnostik und moderne Befruchtungsmethoden eine wichtige Rolle: Vorgeburtliche Untersuchungen entdecken nicht nur Fehlbildungen, sondern zum Beispiel auch, dass der Fötus im Mutterleib zu wenig Nahrung erhält. Die Ärzte «lösen» solche Probleme durch die frühe Geburt. Andererseits führen Hormonbehandlungen - die jeder Arzt durchführen kann - häufiger zu Mehrlingen, die dann zu früh auf die Welt kommen.
In einigen ausländischen Neonatologie-Zentren läuft inzwischen ein Wettlauf, immer noch kleinere «Frühchen» zu retten. Im deutschen Klinikum Grosshadern werden zum Beispiel bereits Winzlinge zwischen 314 und 380 Gramm betreut.
Das geht nicht ohne aggressive Technologie. Schon vor der Geburt erhält die Mutter ein kortisonähnliches Hormon, um die unreifen Lungen des Babys zu stärken und die Gefahr von Hirnblutungen zu senken. Ist das Kind geboren, muss man es häufig künstlich beatmen. Ein Katheter misst die Blutgase, mehrmals am Tag wird es in die Ferse gepikst, um seinen Blutzucker zu überwachen. Und wenn das Baby vor lauter Labortests blutarm wird, bekommt es künstliche Hormone, damit es mehr rote Blutkörperchen produziert.
Mit diesen extremen Hightech-Massnahmen haben Kinder, die in gewissen ausländischen Zentren um die 23. Schwangerschaftswoche (Anfang 6. Monat) geboren werden, heute eine Überlebenschance von 20 bis 30 Prozent.
Nur ein Drittel der Kinder überlebt ohne Schäden
Nur: Welche Lebensqualität diese Frühchen in 20 Jahren haben werden, weiss niemand. Eine Langzeit-Entwicklungsstudie der Universität München zeigte, dass nur ein Drittel aus einer Gruppe von Kindern, die mehr als acht Wochen zu früh zur Welt kamen, ohne bleibende Schädigung überlebte. Ein weiteres Drittel litt unter schweren Störungen - Intelligenzquotient unter 70, zerebrale Bewegungsstörungen, Epilepsie, Blindheit oder Taubheit. Das übrige Drittel schliesslich hatte leichtere geistige, motorische oder Sinnesfunktionsstörungen.
Die Studie untersuchte die Kinder zwar nur bis zum Alter von acht Jahren. Doch die Störungen würden sich nicht einfach auswachsen, sagt Barbara Ohrt, Oberärztin am Hauner'schen Kinderspital der Universität München: «Je mehr Kinder überleben, desto mehr Kinder werden "anders" sein.»
Umso befremdlicher wirkt es, dass die Deutsche Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin den Ärzten empfiehlt, bei Frühgeborenen von der 24. Schwangerschaftswoche an «den rechtlichen und ethischen Geboten zur Lebenserhaltung zu folgen und gegebenenfalls gegen die Wünsche der Eltern zu handeln».
Schweizer Ethikmodell soll Willkür vermeiden
Sollte diese Empfehlung zum medizinischen Standard werden, könnte dies den Ärzten Haftungsklagen bescheren, wenn sie nicht die Maximaltherapie anwenden und die kleinen Patienten quasi ins Leben zwingen.
An einer Fortbildung in der Berner Frauenklinik äusserte der Neonatologe Dieter Mieth kürzlich die Befürchtung, die deutsche «Empfehlung» könnte sich auch in der Schweiz einbürgern. Zurzeit führen jedoch die meisten schweizerischen Neonatologiezentren intensivmedizinische Massnahmen «erst» durch, wenn die Frühgeborenen mindestens 26 Schwangerschaftswochen hinter sich haben und nicht leichter sind als 750 Gramm. Zudem sprechen sie dies mit den Eltern ab.
Professor Emilio Bossi, Vorsteher der Medizinischen Fakultät der Uni Bern, betonte jedoch, die 26. Schwangerschaftswoche könne nur ein Richtwert sein. Es komme auch darauf an, in welchem Zustand das Ungeborene sei und wie gut es entwickelt sei. Und auch die Situation der Eltern sei wichtig. Eine fixe untere Grenze der Lebensfähigkeit lehnten die Neonatologen an der Berner Veranstaltung mit grosser Mehrheit ab.
Als zukunftsfähigstes Vorgehen erachten die Schweizer Neonatologen ein prozesshaftes Ethikmodell, das die Klinik für Neonatologie des Unispitals Zürich seit zwei Jahren praktiziert. Es soll willkürliche Entscheide verhindern und wird angewendet bei:
- sehr unreifen Frühgeborenen vor der 26. Schwangerschaftswoche und unter 750 Gramm Geburtsgewicht,
- Babys mit schweren Missbildungen,
- neurologisch schwer geschädigten Kindern,
- Konfliktsituationen mit den Eltern.
Dass sich auch in der Schweiz die untere Überlebensgrenze extremer Frühchen immer mehr nach unten verschiebt, glaubt Hans-Ulrich Bucher, Professor für Neonatologie an der Uni Zürich, nicht: «Konsequenterweise müsste die Gesellschaft dann bereit sein, auch später noch entsprechende Therapien zu bezahlen.»
Und da gibt es neben ethischen auch ökonomische Aspekte: Ein Tag in einer neonatologischen Intensivstation kostet 3000 Franken; extrem früh Geborene benötigen im Schnitt rund 100 Tage Therapie. Wie später ihre Lebensqualität aussieht, weiss niemand.
Paula Lanfranconi
Frühgeborene retten: Wer entscheidet?
Wer soll entscheiden, ob man ein extrem früh geborenes Kind rettet oder nicht? In der Neugeborenen- Abteilung der Universität Zürich wendet man seit zwei Jahren ein neuartiges Ethik-Modell an:
Die Ethik-Gruppe besteht aus einem inneren und einem äusseren Kreis. Dem inneren Kreis - der schliesslich den Vorschlag macht - gehören die direkt betreuenden Pflegenden und Ärzte an. Der äussere Kreis besteht aus Nerven- und Herzspezialisten, Chirurgen, Krankenschwestern und so weiter, die nicht an der Pflege des Kindes beteiligt sind.
In der Wertanalyse geht es um die Fragen: Wie gross sind die Überlebens-Chancen des Kindes? Wie stark leidet es zur Zeit? Kann es später ein unabhängiges Leben ohne schwerwiegende Behinderungen führen?
Die Eltern sind nicht direkt dabei, wenn die beiden Kreise einen Konsens suchen. «Wir versuchen, den Eltern den Entscheid in einer verständlichen Sprache zu vermitteln», sagt dazu Professor Hans-Ulrich Bucher. «Sie sollen nachvollziehen können, dass es nicht um ein Überleben um jeden Preis gehen kann, sondern um eine gute Lebensqualität für ihr Kind.» Die allermeisten Eltern seien mit dem jeweiligen Vorschlag einverstanden.
Nützliche Adressen
Unabhängige Informationen erhalten Sie bei:
- appella, Informationstelefon zu Verhütung, Schwangerschaft, Kinderlosigkeit und Wechseljahren, Tel. 01 273 06 60
- Verein Ganzheitliche Beratung und kritische Information zu pränataler Diagnostik, Tel. 052 202 72 01, Do 16-19 Uhr
Büchertipps:
- Irène Dietschi: «Testfall Kind. Das Dilemma der pränatalen Diagnostik», Werd Verlag, Fr. 34.90
- Eva Schindele: «Schwangerschaft zwischen guter Hoffnung und medizinischem Risiko», Rasch und Röhring, Fr. 41.-
- Caroline Stoller: «Eine unvollkommene Schwangerschaft», Theologischer Verlag Zürich, Fr. 16.-